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Der Hausarzt kann’s erkennen

Wann wird Trauer pathologisch?

Hausärzte sind diejenigen im Gesundheitssystem, die am häufigsten regelhaft mit Patienten zu tun haben, die aufgrund des Verlusts einer nahestehenden Person trauern. Sie sind auch diejenigen, die am häufigsten von Trauernden um Unterstützung gebeten werden. Insofern bedarf es in dieser Schlüsselposition des Wissens über aktuelle Entwicklungen zum Thema Trauer.

Unterscheidung Trauer, anhaltende Trauerstörung und Depression

Die internationale Forschungsgemeinschaft ist sich weitgehend einig darin, dass Trauer sich signifikant von Depression und Angststörungen unterscheidet. Obschon es Überlappungen einiger Symptomkomplexe gibt, können Unterschiede zwischen Trauer und Depression ausgemacht werden (Tab. 1 und 2). Bei den meisten Trauernden nimmt nach einer gewissen Zeit die Symptomatik graduell ab, zudem kommen bei Trauernden typische depressive Symptome wie Selbstabwertung, motorische Verarmung oder Gefühle der Wertlosigkeit deutlich seltener vor. Bisherige Studienergebnisse weisen darauf hin, dass frühestens sechs Monate nach Verlust zwischen einer normalen Trauer und einer anhaltenden Trauerstörung unterschieden werden kann (Tab. 1). Wenn die Kriterien einer depressiven Störung und die einer anhaltenden Trauerstörung nicht erfüllt werden, liegt eine Trauer vor, die in ihrer möglichen Vielfalt als adäquate Reaktion eingestuft und zurückgemeldet werden sollte.

Tab. 1: Kriterien der anhaltenden Trauerstörung

Tab. 2: Depression bei Trauer

Prävalenz

Bisherige Prävalenzstudien zeigen, dass 65–99% der Trauernden einen normalen, nicht pathologischen Trauerverlauf haben. Ein spezifischer Anteil Trauernder erlebt aber einen komplizierten, lang anhaltenden Verlauf, welcher auch durch komorbide psychische Störungen begleitet werden kann. In Deutschland liegen die aktuellen Zahlen bei 6,7%.

Trauer und Medikamente

Der Unterschied zwischen Trauer und Depression hat Konsequenzen. Bisher gibt es keine Studienergebnisse, die zeigen, dass bei normaler Trauer oder anhaltender Trauerstörung Antidepressiva oder Anxiolytika hilfreich und wirksam sein können. Es wird sogar im Gegenteil befürchtet, dass dadurch der Trauerprozess unnötig verlängert wird.

Dennoch gibt es Verläufe, in denen eine depressive Störung und/oder Substanzmissbrauch bis hin zu einer Suchterkrankung hinzukommen können. Wenn zusätzlich zur Trauer eine eindeutige mindestens mittelgradige depressive Störung vorliegt, sollte der Einsatz eines Antidepressivums geprüft (bei mittelgradiger Depression) bzw. vorgeschlagen (bei schwerer Depression) werden.

Risikofaktoren für komplizierte Trauer

Für die Identifikation von Betroffenen kann neben diagnostischen Kriterien auch das Wissen über Risikofaktoren hilfreich sein. Für die anhaltende Trauerstörung (Tab. 1) gelten folgende Risikofaktoren:

  • Die Art des Verlusts (plötzlich und/oder unerwartet; mehrfach; schwer; nicht anerkannt; einer Person, für die Verantwortung empfunden wurde oder für deren Verlust andere verantwortlich gemacht werden)

  • Persönliche Vulnerabilität (symbiotische Beziehung zu dem Verstorbenen bzw. Abhängigkeit; ambivalente Beziehungen; fehlendes Selbstbewusstsein/Vertrauen in andere; persönliche Verletzlichkeitsgeschichte)

  • Fehlende soziale Unterstützung (soziale Isolation; Familie nicht anwesend oder wenig hilfreich)

Interventionen und Therapie bei anhaltender Trauerstörung

Die Studienlage verweist aktuell vor allem auf verhaltenstherapeutische Ansätze, wie z.B. von Boelen, van den Hout und van den Bout. Mit Einführung der anhaltenden Trauerstörung als ICD-Diagnose sollten hilfreiche Behandlungsansätze regelhaft Teil der Qualifizierung und Ausbildung von Psychotherapeuten und psychiatrischen/psychosomatischen Fachärzten werden, aber auch Hausärzte Hilfestellung bekommen, um diese Diagnose besser erkennen und stellen zu können. Wenn qualitativ ausreichende Therapieangebote bestehen, können Hausärzte sicher sein, dass ihre Patienten dadurch die notwendige Hilfe und Unterstützung bekommen. Darüber hinaus können Betroffene die Behandlung durch Krankenkassen finanziert bekommen, ohne eine andere Diagnose vorzuschieben. Seitens der Betroffenen kann es erleichternd sein, dass das Problem den Namen bekommt, nach dem es sich anfühlt.Angebote wie Trauerbegleitung, Trauercafés oder Trauergruppen können für einen großen Teil aller Trauernden unabhängig vom Schweregrad hilfreich sein, ersetzen bei anhaltender Trauerstörung aber keine psychotherapeutische Behandlung.

Angst vor Pathologisierung von Trauer

Die aktuelle Diskussion um diese Diagnose ist geprägt von der Angst vor der Pathologisierung von Trauer bzw. von allen Trauernden. Diese Angst ist eine Furcht vor Ohnmacht, vor Ausgrenzung, vor Missbrauch. Dem kann man nur begegnen, indem die Diagnose Depression oder anhaltende Trauerstörung bei Trauernden nur dann gestellt wird, wenn ein entsprechender Verdacht sehr gründlich anhand der Kriterien, der Anamnese oder Tests/evaluierter Fragebögen geprüft worden ist und die Diagnose zudem eine Behandlungskonsequenz nach sich zieht.

Entscheidend sind zudem Leidensdruck und Behandlungswunsch. Patienten sollten zudem transparent über die Diagnose und deren mögliche Konsequenzen aufgeklärt werden. Das betrifft aber alle F-Diagnosen. Ärztinnen, Ärzte und Psychotherapeuten sind hier aufgerufen, Haltung zu zeigen und sich an der Öffentlichkeitsarbeit zum Abbau vorhandener Ängste vor Pathologisierung und Stigmatisierung durch eine diagnostizierte psychische Störung zu beteiligen.

Literatur:
beim Verfasser

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