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Antidepressiva in der Schmerztherapie

Mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen

Von schweren chronischen Schmerzen, die die alltägliche Lebensführung und Arbeitsfähigkeit einschränken, sind laut Bundesversicherungsamt (BVA) 4,1% der deutschen Bevölkerung betroffen. Häufig haben Patienten sehr monokausale und mechanistische Schmerzmodelle ("die Bandscheibe") und sind überwiegend der Überzeugung, dass erst die subjektive Schmerzempfindung herunterreguliert werden muss, damit eine bisher eingeschränkte Funktionalität im Alltag wieder aufgenommen werden kann. Die multimodalen Therapieerfahrungen zeigen jedoch, dass es vielmehr notwendig ist, dem Patienten möglichst früh zu vermitteln, dass sie trotz vorhandener Schmerzen wieder in die Aktivität übergehen müssen. Die Vermittlung eines biopsychosozialen Schmerzmodells ist die unabdingbare Aufgabe aller an der Behandlung eines chronisch Schmerzkranken beteiligten Therapeuten.

Biologische Faktoren der Chronifizierung von Schmerzen

Zur Chronifizierung von Schmerzen tragen nach heutigem Kenntnisstand nicht nur Mechanismen auf peripherer Ebene bei (z.B. periphere Sensibilisierung, Denervation, ektope Erregung), sondern auch besonders spinale und zentrale Mechanismen, wie zentrale Sensitisierung, Disinhibition, Veränderung synaptischer Transmission bis hin zu strukturellen und funktionellen Veränderungen in der Hirnmatrix.

Das nozizeptive System steht physiologisch unter ständiger Kontrolle. Dabei gelangen Signale aus Mesencephalon (Aufmerksamkeit), Amygdala (Emotion) und Kortex (Kognition) über verschiedene Interneurone via periaquäduktales Grau und Nucleus raphe magnus zum Tractus spinothalamicus. In der Praxis kennen wir dieses Phänomen alle: Gute Gefühle wie Verliebtsein oder Ablenkung lassen Schmerz weniger intensiv erscheinen, negative Gedanken wie Katastrophisieren oder Gefühle wie Panik verstärken unsere Schmerzwahrnehmung. Die Modulation der Transmission im Tractus spinothalamicus erfolgt über sowohl hemmende als auch aktivierende serotonerge Neurone und noradrenerge hemmende Neurone. Der Funktionsverlust dieser antinozizeptiven serotonergen und noradrenergen Aktivität ist ein wichtiger Mechanismus der Schmerzchronifizierung. Über diesen Mechanismus können Antidepressiva mit serotonerger und insbesondere noradrenerger Wirkung die Schmerzmodulation günstig beeinflussen.

Antidepressiva als Schmerzmodulatoren

Zur Beeinflussung chronischer Schmerzen finden Antidepressiva Anwendung, die sowohl serotonerg als auch noradrenerg wirken. Dies sind insbesondere die klassischen Trizyklika (TZA), die im Vergleich zur Depressionsbehandlung oft schon in relativ niedriger Dosierung wirksam sind (Tab. 1). Eine Zulassung zur Behandlung chronischer Schmerzen haben Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin, häufig wird auch Doxepin angewendet. Sie entwickeln ihre Wirkung über eine nicht selektive Monoamin-Wiederaufnahmehemmung und einen Antagonismus an verschiedenen postsynaptischen Rezeptoren. Auch das noradrenerg und spezifisch serotonerg wirkende Mirtazapin und die selektiven Noradrenalin- und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin, Duloxetin und Milnacipran spielen in der Schmerztherapie eine Rolle. Zugelassen zur Behandlung neuropathischer Schmerzen bei Diabetikern ist hiervon Duloxetin. Die Wahl des Antidepressivums hängt von möglichen Nebenwirkungen, der Komedikation und zusätzlich gewünschten Effekten ab. Nach Ausschluss von Kontraindikationen ist eine Entscheidungshilfe, ob eher eine schlafanstoßende Wirkung (TZA oder Mirtazapin) oder eher eine antriebssteigernde Wirkung (SNRI) gewünscht wird. Soll eine Gewichtszunahme vermieden werden, bieten sich die SNRI an. Das erst seit August 2016 auf dem deutschen Markt zur Depressionsbehandlung zugelassene Milnacipran (in Österreich seit 1998 verfügbar) besticht in der Theorie durch seinen hohen noradrenergen Effekt, fehlende QT-Verlängerung und fehlende Interaktionen mit anderen Arzneimitteln. Erfahrungen mit der Anwendung bei Schmerzpatienten sind noch nicht kongruent. Wegen der widersprüchlichen Datenlage wird es in der aktuellen Leitlinie zur Fibromyalgie nicht empfohlen, obgleich es z.B. in den USA hierfür eine Zulassung erhalten hat.

Schmerz und Depression

Zwischen Schmerz und Depression besteht eine hohe Komorbidität. In der FINDER-Studie berichteten ca. 56% der depressiven Patienten von moderaten bis starken Schmerzen. Die Jahresprävalenz für Depression übersteigt bei chronischen Rückenschmerzen oder Fibromyalgie 50%. Dabei kann Depression Folge der Schmerzerkrankungen und der dadurch erfahrenen Einschränkungen sein oder der Schmerz ist Symptom der Depression. Bei komorbider depressiver Störung werden die neueren Antidepressiva (Mirtazapin, SNRI) bevorzugt, da schmerztherapeutischer und antidepressiver Dosisbereich übereinstimmen, während TZA im höheren, antidepressiven Dosisbereich ein nicht unerhebliches Nebenwirkungsprofil aufweisen.

Schmerz und Angst

Mindestens ebenso häufig wie mit Depressionen sind chronische Schmerzerkrankungen mit Angststörungen vergesellschaftet. Andersherum präsentieren sich Patienten z.B. mit generalisierter Angststörung primär mit somatischen Beschwerden beim Arzt, so sind bei ca. 35% Schmerzen der Konsultationsanlass. Neben anderen Antidepressiva sind die zur Schmerzmodulation eingesetzten Substanzen auch für verschiedene Indikationen zugelassen und wirksam: Bei der Panikstörung ist Venlafaxin 1. Wahl, gefolgt von Clomipramin; bei der generalisierten Angststörung ist Duloxetin
1. Wahl und dann Venlafaxin. Bei posttraumatischen Belastungsstörungen gibt es in Studien positive Hinweise für Venlafaxin und Mirtazapin.

Therapie neuropathischer Schmerzen

Neuropathische Schmerzen z. B. bei Zoster oder Radikulopathien sind durch klassische Schmerzmittel wie NSAR nur schlecht zu beeinflussen. Neben den Ca-Kanal-Blockern Gabapentin und Pregabalin sind Trizyklika und SNRI gut wirksam. Dabei weisen die Antidepressiva in Metaanalysen die niedrigste "number needed to treat" (NNT) bei neuropathischen Schmerzen auf (TZA: NNT 3,6 und SNRI: NNT 6,4 versus Gabapentin: NNT 7,2 und Pregabalin: NNT 7,7).

Behandlung von Kopfschmerzen

Antidepressiva nehmen hier eine feste Stellung ein. Bei der Migräneprophylaxe sind Mittel der 1. Wahl Betablocker (neben Topiramat u.a.). Als Mittel der 2. Wahl werden Amitriptylin und auch Venlafaxin genannt. Bei Spannungskopfschmerzen nehmen Antidepressiva in der medikamentösen Prophylaxe die Hauptstellung ein:
1. Wahl sind Amitriptylin, Doxepin, Imipramin, Clomipramin; 2. Wahl sind Mirtazapin und Venlafaxin neben Valproinsäure und Tizanidin.

Wenn der Patient das alles nicht will

Psychopharmaka werden von Patienten in der Regel argwöhnisch beurteilt. Eine gute Aufklärung hilft oft schon weiter: Antidepressivum ist nicht gleich Neuroleptikum oder Beruhigungsmittel, Antidepressiva machen nicht abhängig, die Verordnung bedeutet nicht, dass automatisch der Schmerz als "psychisch" eingestuft wird. Dennoch bleibt oft die Angst vor Nebenwirkungen. Für die Compliance nützlich ist meist eine Einordnung von Risiken durch Medikamente, z.B. im Vergleich zu den oft unreflektiert eingenommenen NSAR, und man sollte den Patienten in die Therapiesteuerung einbeziehen: Wann ist ein guter Zeitpunkt, das neue Medikament zu probieren? Kann ich bei Nebenwirkungen die Therapie beenden?

Johanniskraut stellt nach aktueller Studienlage keine echte Alternative zu den Antidepressiva in der Schmerztherapie dar. Neben dem nachgewiesenen antidepressiven Effekt gibt es traditionelle und präklinische Hinweise auf antinozizeptive und analgetische Effekte. Außer der möglichen Photosensibilisierung ist Johanniskraut gut verträglich, auf mögliche Arzneimittelinteraktionen muss aufgrund der Induktion im CYP-System unbedingt geachtet werden. Unterstützend kann die angstlösende und beruhigende Wirkung von Lavendel in verschiedenen Anwendungen (Badezusatz, Auflage, oral) genutzt werden, zur oralen Präparation gibt es sogar eine positive Studie bei der generalisierten Angststörung.

Fazit für die Praxis

Serotonerg und noradrenerg wirkende Antidepressiva werden in der Therapie chronischer Schmerzen zur Schmerzmodulation eingesetzt. Darüber hinaus kann durch eine geschickte Wahl des Antidepressivums gleichzeitig eine komorbide psychiatrische Störung, insbesondere Angst und Depression, suffizient behandelt werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, auf neuropathische Schmerzen oder Kopfschmerzen, aber auch Schlafstörungen positiven Einfluss zu nehmen. Die Anwendung eines Antidepressivums kann daher im Rahmen eines interdisziplinären multimodalen Therapieansatzes eine Säule der Therapie darstellen, die "mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt".

Literatur: bei der Verfasserin

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