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Als Allgemeinmediziner bei "Ärzte ohne Grenzen"

Helfen aus Leidenschaft

Denkt man an "Ärzte ohne Grenzen", fallen einem sofort Fernsehbilder von Ärzten ein, die unter schwierigen Bedingungen nach Naturkatastrophen oder in Bürgerkriegsgebieten Hilfe leisten. Doch das Bild von den "Helden im weißen Kittel" mag Dr. Reinhard Dörflinger, von 2006 bis 2015 Präsident der Sektion Österreich von "Ärzte ohne Grenzen" (Médecins Sans Frontières, MSF) und derzeit Repräsentant der MSF International Association (IGA), nicht so gern. Seine Motivation ist eine andere.

Wie es dazu kam

Dr. Dörflingers humanitäres Engagement reicht weit zurück. So betreute er zum Beispiel schon Ende der 1970er-Jahre nicaraguanische Bürgerkriegsflüchtlinge und wenige Jahre später politische Gefangene in Uruguay. Sein Antrieb war immer auch das politische Engagement und die Medizin war ein guter Weg, um seine Ideen umzusetzen. "Es waren damals Jahre des Aufbruchs in Österreich. Es ging um eine Demokratisierung der Psychiatrie, weg von der Verwahrungstheorie. Es ging um die Aufarbeitung der Verstrickung von Ärzten im Faschismus, also im Grunde um eine aufklärerische Haltung gegenüber den Strukturen und Personen jener Zeit", erklärt Dörflinger.

"Bei den frühen Einsätzen rekrutierten wir uns aus dieser Solidaritätsbewegung. Anders als bei ‚Ärzte ohne Grenzen‘ gab es damals die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern, Guten und Bösen. Die Guten waren zum Beispiel die Sandinisten in Nicaragua, die gegen die Diktatur kämpften, oder in Afghanistan die Widerstandskämpfer gegen die sowjetischen Invasoren", sagt der Arzt. "Ärzte ohne Grenzen" ist dagegen politisch neutral. Es geht darum, humanitäre Hilfe zu leisten ohne Ansehen der Person, der politischen Meinung oder der Religion. Erste Kontakte zur Organisation knüpfte Dörflinger 1994, als er für die Caritas in Ruanda war und dort Teams von "Ärzte ohne Grenzen" traf. Deren Logistik und Herangehensweise beeindruckte ihn und er schloss sich der Organisation an.

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Tuberkulosetherapie in Tadschikistan 2016: Um die Tabletteneinnahme zu erleichtern, werden sie in einem speziellen Verfahren mit einem Sirup vermischt. (© Sabir Sabirov)

Dr. Reinhard Dörflinger engagiert sich schon seit Ende der 1970er-Jahre bei humanitären Einsätzen.

Tadschikistan 2016: Nach monatelangen Vorbereitungen und Verhandlungen mit den Behörden kann das Projektteam mit der Behandlung von Tuberkulosepatienten beginnen.

Logistische Großleistung

"Bevor ein Arzt oder eine Ärztin das Stethoskop ergreift und einen Patienten untersucht, ist bereits eine riesige Maschinerie angerollt", erklärt Dörflinger. Koordiniert werden die Einsätze von einem der fünf Hauptquartiere, die historisch in Europa angesiedelt sind. Ihnen sind weltweit 25 regionale Vereine, unter anderem in Österreich, angeschlossen. Diese rekrutieren Mitarbeiter für die Einsätze, berichten über die Erfahrungen vor Ort, organisieren Kampagnen und betreiben Fundraising. Weltweit arbeiten mehr als 40000 Menschen für Ärzte ohne Grenzen. Dabei machen Ärzte nur rund ein Drittel der internationalen Mitarbeiter aus, die Gesundheitsberufe insgesamt etwa die Hälfte. Die andere Hälfte stellen Logistiker, Architekten, Ingenieure, Buchhalter, Journalisten etc.

Die Organisation unterhält Logistikzentren auf dem modernsten Stand der Technik. Dort werden standardisierte Kits für unterschiedliche Situationen verpackt und verschickt, zum Beispiel für eine Masernepidemie, einen Ebolaausbruch oder die Versorgung von Verletzten in Kriegsgebieten. "Sehr oft übernehmen wir bestehende Einrichtungen wie Ambulanzen oder Krankenhäuser und statten sie mit allem Nötigen aus. Dabei kaufen wir – soweit möglich – lokal ein. Nur wenn das nicht möglich ist, in etwa zehn Prozent der Einsätze, werden mobile Spitäler mitgenommen", sagt der Arzt. Dieser Aufwand ist umso beachtenswerter, als "Ärzte ohne Grenzen" sich überwiegend privat finanziert, zum Beispiel mit einem Spendenvolumen von rund 23 Millionen Euro in Österreich und international mit etwa 1,5 Milliarden Euro.

Die Mitarbeiter für die Einsätze werden zum größten Teil in den jeweiligen Gebieten lokal rekrutiert oder kommen aus Nachbarländern. Das sei schon aufgrund der Sprache und der kulturellen Nähe sinnvoll, so Dörflinger. Internationale Mitarbeiter werden bei der Anstellung versichert und erhalten ca 1000 Euro pro Monat – gleich welcher Berufsgruppe sie angehören. Reisen, Kost und Logis sind frei. Bleiben die Leute über eine längere Zeit in einem Projekt, steigt auch die Bezahlung, aber "eine Familie davon zu ernähren ist schon schwierig", sagt der Arzt. Deshalb rekrutieren sich die Mitarbeiter meist aus jungen Menschen ohne Familie und älteren gegen Ende ihrer Karriere.

Niger: Hier ist ein Schwerpunkt die Behandlung von Kindern mit schwerer Mangelernährung, Malaria und anderen Krankheiten. Weitere Aktivitäten umfassen zum Beispiel Impfprogramme und die Betreuung von Schwangeren und Müttern.

Sind die Einsätze gefährlich?

Perfekte Koordination und Logistik sind eine Seite eines Einsatzes in einem Krisengebiet, die Umstände vor Ort sind eine andere. Wenn Dörflinger seine Einsatzorte aufzählt, kommt eine Reihe von Krisengebieten zusammen, unter anderem Honduras, Guatemala, Ruanda, Kenia, Guinea, Niger, Zentralafrikanische Republik. Auf die Frage, ob er während seiner Einsätze Angst habe, lacht er. "Die Einsätze vor meiner Zeit mit Ärzte ohne Grenzen waren sicher gefährlicher, weil wir amateurhafter organisiert waren. Wir hatten zum Beispiel keine Fahrer und sind selbst überallhin gefahren. Wir waren uns der möglichen Gefahren damals nicht wirklich bewusst."

Ärzte ohne Grenzen habe als Organisation strenge Sicherheitsrichtlinien, erklärt der Arzt. Die Arbeitsbedingungen vor Ort werden vor Beginn des Einsatzes geprüft. Während des Aufenthaltes gelten für die Mitarbeiter strenge Regeln.Oft werden sie von ihrer Unterkunft zum Spital und wieder zurück gebracht, ohne Möglichkeit, allein unterwegs zu sein. Die Unterkünfte, sogenannte Compounds, sind abgeschlossene Einheiten, vollständig eingerichtet mit allem Notwendigen, WLAN, Sportmöglichkeiten etc. "Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die Disziplin sind der Preis dafür, dass relativ wenig passiert", betont Dörflinger. Das habe sich so mancher, der zum ersten Mal bei einem Einsatz dabei ist, anders vorgestellt, sagt er. "Es ist eine Arbeitsmaschinerie mit Arbeitszeiten von halb acht bis halb sechs und einem freien Tag pro Woche. Es wird erwartet, dass man funktioniert." Und wenn es doch zu riskant wird? "Wenn die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann, dann werden Einsätze beendet und die Teams abgezogen", so Dörflinger.

Humanitärer Einsatz und mehr

In den Medien wird meist nur von den spektakulären Einsätzen von Ärzte ohne Grenzen berichtet, ein großer Teil ist aber die Arbeit in der Organisation selbst. So ist Dörflinger, gemeinsam mit dem jeweiligen Präsidenten der österreichischen Sektion, gewählter Vertreter in der internationalen Generalversammlung. "Das mache ich, weil die Idee gut ist, weil sie leidenschaftlich ist und weil es spannend ist, zu sehen, wie sich die Organisation weiterentwickelt." Mit dieser Tätigkeit ist mindestens einmal im Jahr ein Besuch im "Feld" verbunden. "Im vergangenen Jahr war ich in Bangui, Zentralafrikanische Republik, und in diesem Jahr geht es nach Usbekistan", sagt der Arzt. In dieser Region stehen nicht Konflikte im Vordergrund, sondern ein anderer heimtückischer Gegner: Ärzte ohne Grenzen sind die Experten für die Behandlung der multiresistenten Tuberkulose, die in den ehemaligen Sowjetstaaten eine hohe Inzidenz hat. Die Organisation kooperiert in Ländern wie Usbekistan oder Tadschikistan mit dem staatlichen Gesundheitswesen und leistet Unterstützung bei der Forschung.

"Viele kennen nur die humanitäre Akuthilfe und wissen nichts von diesem Bereich bei ‚Ärzte ohne Grenzen‘", so Dörflinger. Dabei ist "research & development" ebenso wichtig. Das Ziel ist, mehr Menschen den Zugang zu neuen Medikamenten für "vernachlässigte Krankheiten" zu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem die Schlafkrankheit, Malaria, Chagas oder eben MDR-Tuberkulose. Dies geschieht im Rahmen der "Drugs for Neglected Diseasesinitative" (DNDi), in der weltweit Universitäten, humanitäre Organisationen, Pharmaunternehmen und Stiftungen kooperieren. Dabei werden bereits vorhandene Moleküle und Substanzen weiterentwickelt, deren Patente die Hersteller der Weltgesundheitsorganisation WHO geschenkt haben, weil sich die weitere Forschung für die Unternehmen nicht lohnt.

"Wir errichten, meist in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Gesundheitsministerium, sogenannte Best-Practice-Kliniken. Dabei richtet Ärzte ohne Grenzen die Kliniken her, bezahlt und schult das Personal und beschafft zum Teil auch die Medikamente", erklärt Dörflinger.

Nach dem Einsatz: "Bilder im Kopf"

Vor allem in Kriegsgebieten oder während eines Seuchenausbruchs sehen die Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" oft großes Leid. Um die psychischen Belastungen abzufangen, unterhält die Organisation ein Support-Netzwerk für Mitarbeiter, die an internationalen Einsätzen teilnehmen. Dazu gehört auch eine psychologische Betreuung. "Doch diese wird relativ wenig benötigt", sagt der Arzt. "Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich sofort starke Bilder in meinem Kopf abrufen kann, aber nicht im Sinne eines posttraumatischen Ereignisses. Es handelte sich dabei um Situationen, in denen man agieren konnte, also eine gewisse Kontrolle hatte." Zu posttraumatischen Problemen komme es eher nach Situationen, denen man ohnmächtig gegenübergestanden ist, erklärt er.

Seine Erlebnisse und Erfahrungen beeinflussenauch Dörflingers Arbeit in der allgemeinmedizinischen Ordination in Wien. Da sind zum Beispiel die Patienten: "In meiner Ordination gab es sicher zehn bis 15 Prozent Lateinamerikaner. Das liegt auch daran, dass ich öfter dort war und Spanisch spreche. Zudem war ich auch im Vorstand der Sektion von Lateinamerika." Die Sprachkenntnisse, das Wissen um die Kultur und die politischen Entwicklungen einer Region eröffnen einem Arzt einen anderen Zugang zu den Patienten. "Viele meiner Kollegen trauen sich nicht, einen Patienten aus Lateinamerika oder Afrika zu fragen, woher er genau kommt. Damit geht eine wichtige Dimension in der Arzt-Patienten-Beziehung verloren", ist der Allgemeinmediziner überzeugt. Dass er Patienten aus Krisengebieten, in denen er schon gearbeitet hat, anders behandelt als seine österreichischen Patienten, ist aber nicht der Fall. Ein Arzt aus Leidenschaft wie Dörflinger macht da keine Unterschiede.

Bericht:

Dr. Corina Ringsell

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