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Sexualfunktionsstörungen und tabuisierte körperliche Beschwerden

Heikle Themen ansprechen

Tabus sind zunächst einmal nichts Schlechtes, denn sie definieren die unausgesprochenen Normen einer Gesellschaft und stabilisieren diese, zum Beispiel im Umgang miteinander. Doch Gesellschaften sind keine starren Gebilde, sie wandeln sich und mit ihnen auch die Tabus. In Übergangszeiten, in denen die alte Norm noch verankert und die neue noch nicht etabliert ist, erzeugt ein Tabubruch allerdings Unbehagen und Scham. Dies gilt auch für den Umgang mit sexuellen Störungen und wirkt sich auf die behandelnden Ärzte sowie deren Patienten aus. So ergab eine Umfrage, dass nur rund 10% der Befragten von ihrem Arzt auf die sexuelle Gesundheit angesprochen worden waren.1 Dabei sind Sexualprobleme sehr häufig: In einer weiteren Umfrage gaben 39% der Männer und 46% der Frauen an, in den vergangenen zwölf Monaten sexuelle Probleme gehabt zu haben, die länger als zwei Monate andauerten.2

Unbehagen auf beiden Seiten

Doch nicht nur Ärzte sprechen das Thema sexuelle Gesundheit nicht an, auch die Patienten schweigen oft, obwohl sie Probleme haben. In der genannten Umfrage sagten nur 15,5% der Männer und 20,1% der Frauen, dass sie mit ihrem Arzt über diese Probleme gesprochen hätten. Gründe, dies nicht zu tun, waren, dass die Patienten sich selbst dabei unwohl fühlten oder den Eindruck hatten, der Arzt fühle sich beim Thema Sex nicht wohl. Viele meinten, dass der Arzt ihnen nicht helfen könne oder dass sexuelle Störungen keine medizinischen Probleme seien. Oft herrscht noch die (falsche) Meinung vor, dass sie rein psychischer Natur sind.1

Auf Seiten der Ärzte wurden hohes Alter oder Krankheit der Patienten, Sprach- sowie religiöse oder kulturelle Barrieren als Hinderungsgründe für ein Gespräch über Sexualität genannt. Viele Ärzte gaben an, dass sie nicht wüssten, wie sie am besten in ein solches Gespräch einsteigen.3, 4

Die in der Ordination oder der Klinik übliche Gesprächssituation fördert tatsächlich nicht die Bereitschaft, über sexuelle Probleme zu sprechen, denn meist kommen die Patienten wegen anderer Krankheiten. Sie wissen zudem, dass ihr Arzt wenig Zeit hat, oder wollen die Konsultation selbst kurz halten. Zeitmangel ist auch für Ärzte ein Grund, nicht nach sexuellen Problemen bei Patienten zu fragen, die wegen anderer Krankheiten kommen.

Außerdem wissen die Patienten nicht, ob ihr Arzt mit dem Thema Sexualität umgehen kann, die geschilderten Probleme ernst nimmt und helfen kann. Diese Unsicherheit teilen die befragten Ärzte, da Sexualmedizin zumeist nicht Teil der Ausbildung und des Studiums ist.

Sexualmedizin ist kein Voyeurismus

Die Sexualmedizin ist kein Selbstzweck, sie zeigt vielmehr Zusammenhänge auf. Somatopsychosoziale Veränderungen können sich auf die sexuelle Gesundheit auswirken. So hat ein hoher Anteil der Erektionsstörungen organische Ursachen, unter anderem kardiovaskuläre Krankheiten und Diabetes (Tab. 1).5 Beispielsweise entwickeln rund 70% der Männer mit einer koronaren Herzkrankheit (KHK) auch Erektionsstörungen.6 Ebenso treten Sexualstörungen bei 70% aller Menschen mit (schlecht eingestelltem) Diabetes auf.7 Ähnliches gilt für unzureichend eingestellten Bluthochdruck – und zwar für Männer und Frauen gleichermaßen: Etwa 50% der Männer leiden an Erektionsstörungen, bei Frauen kommt es vor allem zu Lubrikationsstörungen (41%), Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (56%) und Lustlosigkeit (68%).8, 9 Und auch Depressionen führen in nahezu 70% der Fälle zu Problemen der Sexualfunktion.10

Bei manchen Krankheiten sind Sexualstörungen das erste Symptom, das schon Jahre vor der eigentlichen Krankheit auftritt, etwa bei der koronaren Herzkrankheit oder dem Prostatakarzinom.6 Bei anderen Krankheiten sind sie Leitsymptom, zum Beispiel deuten Schmerzen beim Geschlechtsverkehr auf Dermatosen hin. Ärzte sollten daher den Tabubruch begehen und die sexuelle Gesundheit ihrer Patienten ansprechen, um Zusammenhänge zu erklären und die Betroffenen von ihrem Leid zu befreien.

Alter ist kein Grund, nicht zu behandeln

Mit zunehmendem Alter treten vermehrt vor allem chronische Krankheiten auf, mithin auch häufiger Störungen der Sexualfunktion.11 Das fortgeschrittene Alter der Patienten ist jedoch kein Grund, diese nicht zu behandeln. Wie Untersuchungen zeigen, sind auch betagte Menschen sexuell aktiv. So ergab eine Befragung von mehr als 3000 Männern und Frauen im Alter zwischen 57 und 85 Jahren, dass selbst von den über 75-Jährigen, die noch sexuell aktiv waren, über die Hälfte dies öfters als zwei- bis dreimal pro Monat waren. Davon hatten 74% der Frauen und 84% der Männer immer/meistens Geschlechtsverkehr.12

Grundlage der Therapie von Sexualstörungen ist das vertrauensvolle Gespräch, das in einem Drittel der Fälle bereits ausreicht, um das Problem zu lösen.13 Grunderkrankungen sollten selbstverständlich behandelt werden. Spezifische Medikamente oder eine systemische oder lokale Hormontherapie stehen ebenfalls zur Verfügung. Zudem ist es sinnvoll, sämtliche Medikamente, die die Patienten einnehmen, zu überprüfen und ggf. die Dosis anzupassen oder Alternativen anzubieten. Tritt keine Besserung ein, ist eine Sexualtherapie ratsam.

Nicht jeder fühlt sich wohl dabei, Patienten direkt auf ihre Sexualität anzusprechen. Eine Brücke kann der indirekte Zugang bauen, indem man Poster und Broschüren oder Zeitschriften zum Thema im Wartezimmer hat. Diese signalisieren den Patienten: "Ich kann mit diesem Arzt über meine Sexualität sprechen." Recht einfach ist es auch, die Sexualität im Zusammenhang mit einer Krankheit oder bestimmten Medikamenten anzusprechen, zum Beispiel: "Diese Krankheit/dieses Medikament kann zu sexuellen Störungen führen. Falls Sie Fragen dazu haben, bin ich für Sie da." Am allerliebsten wäre mir aber, wenn sich jeder Arzt schon beim Erstgespräch als Ansprechpartner für sexuelle Probleme zu erkennen gibt, denn das ginge ganz leicht. Es genügt der Satz "Ich bin als Arzt auch für das Thema sexuelle Gesundheit zuständig. Falls Sie Fragen dazu haben, können Sie sich gerne an mich wenden."

Literatur:
  1. Moreira ED Jr et al.: Int J Clin Pract 2005; 59: 6-16

  2. Moreira ED Jr et al.: Eur J Med Res 2005; 10: 434-43

  3. Krouwel EM et al.: J Sex Med 2015; 12: 1927-39

  4. Flynn KE et al.: Psychooncology 2012; 21: 594-601

  5. Stief CG et al.: J Urol 1989; 141: 315-9

  6. Burchardt M et al.: Int J Impot Res 2001; 13: 276-81

  7. Rutte A et al.: J Sex Marital Ther 2015; 41: 680-90

  8. Artom N: Clin Exp Hypertens 2016; 38: 143-9

  9. Nascimento ER: J Affect Disord 2015; 181: 96-100

  10. Bonierbale M et al.: Curr Med Res Opin 2003; 19: 114-24

  11. ATHIS 2014 – Austrian Health Interview Survey 2014 (www.gesundheit.gv.at/linkaufloesung/applikation-flow?leistung=LA-GP-GL-oesterreichische-gesundheitsbefragung-2014-bmg&flow=LO&quelle=GHP; Zugriff 6. Juni 2019)

  12. Lindau ST et al.: N Engl J Med 2007; 357: 762-4

  13. Beier KM et al.: Sexualmedizin. Urban & Fischer, 2005

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