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Vergiftungen und Verätzungen

Erste Hilfe durch den Hausarzt

Die Vergiftungsinformationszentrale (VIZ) ist am AKH in Wien angesiedelt und 24 Stunden über den Notruf 01 406 43 43 erreichbar. Sie bietet einerseits eine toxikologische Beratung für Laien durch toxikologisch spezialisierte Ärztinnen und Ärzte an. Andererseits steht sie konsiliarisch für medizinisches Fachpersonal zur Verfügung und bietet Hilfe in der Risikoabschätzung und Prognose sowie bei der Entscheidung für therapeutische bzw. diagnostische Maßnahmen an. Zudem unterstützt die VIZ Ärztinnen und Ärzte bei diagnostischen und differenzialdiagnostischen Überlegungen in unklaren Fällen.

Ursache jeder Vergiftung sind sogenannte Noxen, die den Organismus mehr oder weniger stark schädigen. Die Europäische Union legt Noxen in 14 Gruppen fest. Die drei größten sind: Arzneimittel (z. B. bei Suizidversuch), chemische Produkte (z. B. Haushaltsprodukte und Arbeitsunfälle) und Pflanzen (häufig akzidentelle Ingestion im Kindesalter).

Bei Vergiftung sofort handeln!

Im Vergiftungsfall muss schnell und zielgerichtet gehandelt werden. Für eine zeitnahe fundierte Beratung benötigen die Fachberater am Telefon deshalb immer möglichst konkrete Informationen:

  • Geschlecht, Alter und Körpergewicht des Patienten

  • möglichst genaue Bezeichnung der Noxe (z. B. nicht nur „Badreiniger“ angeben, sondern das genaue Produkt, da es sowohl ätzende als auch reizende Stoffe gibt)

  • ungefähre oder maximal ingestierte Menge der Noxe

  • Latenz der Ingestion (wichtig für die Indikation zur primären Giftentfernung)

  • grob orientierende klinische Untersuchung und gegebenenfalls Vorerkrankungen

Die spezifische Behandlung von Vergiftungen beruht auf drei Grundpfeilern („Drei-Säulen- Modell“) der klinischen Toxikologie:

  • primäre Giftentfernung

  • sekundäre Giftentfernung

  • Gabe von Antidoten oder Antiveninen (Antiseren gegen das Gift von Gifttieren)

Primäre Giftentfernung

Die primäre Giftentfernung soll die Resorption einer Noxe nach der Aufnahme verhindern. Zu den Maßnahmen zählen die Magenspülung und die Applikation medizinischer Kohle. Die primäre Giftentfernung birgt ein nicht unerhebliches Risiko für den Patienten (z. B. Entwicklung einer Aspirationspneumonie) und bedarf daher einer überprüften konkreten Indikation. Die Gabe von Ipecacuanha-Sirup etwa oder andere Formen des provozierten Erbrechens sind obsolet.

Magenspülung

Die Indikation zur Magenspülung ist innerhalb der ersten Stunde nach Aufnahme einer potenziell lebensbedrohlichen Dosis einer Noxe zu stellen. Bestimmte schädigende Stoffe gelten hier als Kontraindikation: ätzende Substanzen und langkettige Kohlenwasserstoffe (z. B. Benzin oder Lampenöle). Ist die Noxe eine Substanz mit potenzieller ZNS-Wirkung, sollte die Magenspülung unter Intubationsschutz vorgenommen werden.

Einige Medikamente (z. B. Carbamazepin) können nach Ingestion großer Mengen zu einer Bezoarbildung bzw. zur „Auskleisterung“ der Magenwand durch die in den Pillen (z. B. Quetiapin) enthaltene Hypromellose führen. In diesen Ausnahmefällen kann eine Gastroskopie mit endoskopischer Bergung von Tablettenresten indiziert sein.

Kohle

Die einmalige orale Gabe von Aktivkohle ist innerhalb einer Stunde nach Ingestion einer potenziell toxischen Dosis einer an Kohle bindenden Substanz indiziert. Die Dosierung berechnet sich entweder über das Körpergewicht (0,5–1 g/kg KG) oder über die verschluckte Menge der ingestierten giftigen Substanz (die Kohlemenge liegt zehnfach über der Giftmenge). In Einzelfällen kann die Einnahme von Medizinalkohle zu Hause erfolgen. Meist sollte sie jedoch unter medizinischer Aufsicht vorgenommen werden.

Sekundäre Giftentfernung

Ziel der sekundären Giftentfernung ist die beschleunigte Elimination der Noxe aus dem Körper nach bereits erfolgter Resorption. Beispiel hierfür ist die verspätete und repetitive Gabe von Aktivkohle, die bei fünf Medikamenten mit ausgeprägtem enterohepatischem Kreislauf (Carbamazepin, Theophyllin, Dapson, Phenobarbital und Chinin) indiziert sein kann. Dabei sollten alle vier Stunden 50 g (alternativ stündlich 12,5 g) Kohle gegeben werden. Weitere Therapiemaßnahmen der sekundären Giftentfernung sind: Urin-Alkalisierung, Hämodialyse, Hämoperfusion oder MARS („Molecular Adsorbent Recirculating System“).

Antidota und Antivenine

Einige Intoxikationen kann man durch entsprechende Antidote spezifisch behandeln. Tabelle 1 zeigt einige wichtige Noxen und ihre passenden Antidote. Die Maßnahmen zur sekundären Giftentfernung als auch die Gabe der meisten Antidote/ Antivenine sollten wegen ihres erheblichen Komplikationsrisikos unter kontrollierten intensivmedizinischen Bedingungen erfolgen.

Arzneimittel

Arzneimittel, die von den erwähnten niedergelassenen Ärzten am häufigsten genannt wurden, sind Antiphlogistika/Antirheumatika. Hier einige Beispielnoxen, die bei uns angefragt wurden:

Acetylsalicylsäure
Eine Überdosierung kann neben gastrointestinalen Symptomen zur Beeinträchtigung des Hör- und Sehvermögens sowie zu Schwindel führen. Bei (mittel-)schweren Vergiftungen sind weitere Ereignisse möglich, etwa eine metabolische Azidose, Hyperventilation, neurologische Symptome (Benommenheit, Delir, Krampfanfälle) und kardiale Probleme. Auch Leber- und Nierenschäden können auftreten. Bis zu einer Menge von 75 mg/kg bei Säuglingen und 100 mg/kg bei anderen Altersstufen ist bei asymptomatischen Patienten keine Therapie erforderlich. Bei einer höheren Ingestionsmenge ist eine stationäre Überwachung indiziert.

Paracetamol
Bei einer Überdosierung kann es neben gastrointestinalen Symptomen insbesondere zu Leberschäden kommen. Mit Acetylcystein ist ein wirksames und meist gut verträgliches Antidot verfügbar. Die Grenzwerte zur Antidotgabe sind abhängig davon, ob der Patient gesund ist (Grenzwert: 150 mg/ kg KG), zur Risikogruppe gehört (z. B. Früh- und Neugeborene, Schwangere oder alkoholabhängige Patienten; Grenzwert: 100 mg/kg KG) oder ob eine protrahierte Einnahme vorliegt (Grenzwert 80 mg/ kg KG). Ein Paracetamolspiegel kann in einigen Fällen die Antidotindikation klären. Ist eine ACC-Gabe indiziert, erfolgt diese als iIv.-Schema über mindestens 21 Stunden.

Chemische Produkte

Zu den häufigsten chemischen Produkten, die durch unsachgemäßen Gebrauch, akzidentell oder in suizidaler Absicht zur potenziellen Vergiftung führen, gehören Reinigungsmittel. Für eine detaillierte Beratung ist, wie schon beschrieben, immer der genaue Produktname wichtig. Ist dieser bekannt, kann eine produktindividuelle Beratung (häufig auch bei ausländischen Produkten) erfolgen und oft ein stationärer Aufenthalt vermieden werden. Man unterscheidet vor allem zwei Gruppen:

  • ätzende Reinigungsmittel: Backofen, Grill- und Rohrreiniger, Mittel zur industriellen Reinigung, Melkmaschinenreiniger, Stein- und Fliesenreiniger u. a.

  • reizende Reinigungsmittel: handelsübliche tensidhaltige Reinigungsmittel (Handspül- und Waschmittel, Weichspüler, Glasreiniger, Spülmaschinentabs), kosmetische Reinigungsmittel (wie Shampoos, Duschgel) u. a.

Hat der Patient eine ätzende Substanz geschluckt, sollte er sofort etwas Flüssigkeit zu sich nehmen, um seine Schleimhäute zu spülen. Erbrechen muss unbedingt vermieden werden – die Schleimhaut der Speiseröhre ist besonders gefährdet. Auch fehlende Ätzspuren im Mund schließen eine Schädigung des Ösophagus nicht aus. Die Gabe von Kortikoiden bei ätzenden Stoffen ist umstritten. Der Patient sollte immer stationär überwacht und gegebenenfalls im Verlauf endoskopiert werden. Auch die Aufnahme einiger reizender Produkte in größerer Menge oder bei langem Verbleib kann auf den Schleimhäuten zu Verätzungen führen (z. B. langes Kauen von Kernseife oder Ingestion von Gebissreinigertabs durch demente Personen). Wurde nur eine kleine Menge eines schleimhautreizenden Tensidprodukts verschluckt, genügen in der Regel etwas Flüssigkeit (stilles Wasser/ Tee) und die Gabe eines Entschäumers (Dimeticon). Bei Verdacht auf eine Aspiration sollte der Patient unbedingt zum Arzt gehen.

Fazit für die Praxis

Zur Diagnostik und Therapie von Vergiftungen sollte der Hausarzt immer die Vergiftungsinformationszentrale konsultieren. Denn durch die enge Zusammenarbeit der VIZ mit niedergelassenen Ärzten lassen sich viele Vergiftungen ambulant diagnostizieren beziehungsweise therapieren und unnötige Krankenhausvorstellungen vermeiden.

Der Fall

Das Ehepaar S. kommt morgens mit seiner dreijährigen Tochter als Notfall in die Allgemeinarztpraxis von Dr. M. Die Eltern berichten aufgeregt, dass die Tochter in einer unbeobachteten Minute die „Herztablette der Oma“ geschluckt habe. Eine Pille fehlte jedenfalls und konnte nicht gefunden werden. Das Paar fuhr dann sofort mit der Kleinen zum Arzt.
Das Mädchen zeigt sich in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand. Die Messung der Vitalparameter ist unauffällig. Zur Entscheidung des weiteren Therapieverlaufs kontaktiert Dr. M. den Giftnotruf. Im Gespräch wird zunächst eine kurze Anamnese erhoben:

  • Patient: Kind, weiblich, drei Jahre, 15 kg, keine Vorerkrankungen

  • Noxe: Bisoprolol 7,5 mg. Auf Nachfrage versichern die Eltern, dass das Mädchen höchstens eine Tablette verschluckt haben kann. Die Einnahme weiterer Medikamente lässt sich sicher ausschließen.

  • Die Latenzzeit beträgt 30 Minuten.

  • Das Mädchen zeigt keinerlei Symptome.

Die Ärztin des VIZ gibt folgende Hinweise:

  • Eine primäre Giftentfernung ist nicht indiziert. Zwar liegt die Latenzzeit mit unter einer Stunde im möglichen Zeitfenster für eine Kohlegabe. Die ingestierte Menge an Bisoprolol (7,5 mg) ist jedoch unter dem Grenzwert für eine primäre Giftentfernung (> 10 mg) festzumachen. Die Einnahme ist zudem unsicher, weshalb die Gefahr einer möglichen Kohleaspiration überwiegt. Ein Antidot existiert nicht.

  • Bei einer Menge von bis zu 10 mg Bisoprolol können gesunde Kleinkinder häuslich überwacht werden. Die Kontrolle sollte für mindestens vier Stunden engmaschig erfolgen, bei Symptomen eine klinische Überwachung des Kindes.

  • Mögliche Symptome betreffen vor allem das Herz-Kreislauf-System. Erkennbare Anzeichen sind Müdigkeit, Blässe, Schwäche oder Erbrechen. Die Symptome treten in der Regel innerhalb von ein bis zwei Stunden auf, sind aber auch nach einer Latenz von mehreren Stunden noch möglich. Betablocker können bei Kindern zudem zu einer Hypoglykämie führen, die sich häufig erst nach mehreren Stunden manifestiert. Bei einer häuslichen Überwachung müssen die Eltern deshalb für eine regelmäßige Kohlenhydratzufuhr in den nächsten zwölf Stunden sorgen.

Im gemeinsamen Gespräch ergibt sich für den Allgemeinarzt, dass die Eltern durchaus in der Lage sind, die häuslichen Überwachungs- und Therapiemaßnahmen anzuwenden. Er hat keine weiteren Fragen.

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